Saturday, October 15, 2005

Putjatin in Wilhelm von Kügelgen's Erinnerungen

aus "Jugenderinnerungen eines alten Mannes" von Wilhelm von Kügelgen
von http://gutenberg.spiegel.de/kuegelgn/altmann/altmann.htm :


im Kapitel Zelebritäten
"[..]

Die Mutter pflegte uns aus Grundsatz wenig Leckereien und niemals außer der Zeit zu essen zu geben, wofür ich ihr noch heute danke. Dafür freilich vertrugen wir's in fremden Häusern desto besser, und namentlich bei Schönbergs, die sehr gut lebten. Herr Schönberg hielt persönlich was auf gute Küche. Er urteilte in Geschmackssachen weniger illusorisch als reell, und man sah Männer an seiner Tafel, die auf ein Butterbrot nicht einzuladen waren, selbst große Herren, wie den russischen Fürsten Putjatin, der seit langer Zeit in Dresden domizilierte.

Besagter Fürst war für uns Kinder im höchsten Grade bemerkenswert, da er jenen schätzbaren Originalen angehörte, über deren Aussterben neuerdings so viel geklagt wird, mit denen Dresden aber dazumal noch reichlich versehen war. Sie fanden sich in allen Klassen der Gesellschaft, und es steht wohl nichts im Wege, diese Blätter mit den Umrissen einiger der hervorragendsten Gestalten dieser Art zu illustrieren.

[..]

Dergleichen vorurteilslose Leute gab es außerdem noch mehrere. Unter allen aber der merkwürdigste war ohne Zweifel jener russische Fürst Putjatin, den ich zwar täglich auf der Straße sah, der mir aber im Schönbergschen Hause als im Verkehr mit anderen Menschen doppelt interessant war. Der Fürst gehörte der vornehmsten Gesellschaft an, er war ein gebildeter, geistvoller und sehr kenntnisreicher Herr, doch aber etwas ganz Apartes und seine Erscheinung so auffällig, daß ich nicht weiß, wem es mehr zur Ehre gereichte, ihm oder der Straßenjugend, wenn diese ihn nicht nur ungehudelt ließ, sondern ihm sogar mit Achtung auswich.

Meine Dresdner Zeitgenossen werden sich erinnern, daß ihnen je zuweilen bei Regenwetter ein wandelndes Schilderhaus oder ein Pavillon von schwarzem Taffet begegnet ist. Das war der Fürst. Sich bei Exponierung des ganzen übrigen Körpers nur allein den Kopf zu schützen, hielt er nicht für zuträglich und erfand daher diese Veranstaltung, welche, mit kleinen Glasfenstern versehen, die ganze Gestalt bis an die Knöchel bedeckte.

Bei schönem Wetter war etwas mehr zu sehen. Der Fürst trug alsdann eine zweckmäßige, sehr großschirmige Mütze, blaue Brillen, das breite schwarze Halstuch übers Kinn gezogen und einen langen, bis an die Füße reichenden, fest zugeknöpften Überrock. Rechts von der Brust herab hing an einem silbernen Haken das ansehnliche Paket jenes kompendiösen Schirmes, links aber eine elegante Hundepeitsche und eine große Flöte oder Schalmei. Vor ihm her bewegten sich ein paar Möpse, welche taub zu sein schienen, denn sie kehrten sich ebensowenig an die starken Signale, die der Fürst ihnen von Zeit zu Zeit auf seiner Schalmei gab, als er sich an ihren Ungehorsam. Er begnügte sich, ihnen seinen Willen kundzutun, es ihnen überlassend, ob sie sich fügen wollten oder nicht. Ohne seine Hunde aber sah man ihn nie. Er liebte und bewunderte sie wie ihr ganzes Geschlecht und pflegte zu behaupten, die Hunde seien die eigentlichen Menschen, die Menschen eigentlich Hunde.

Übrigens war es nur wenigen bekannt, daß man unter dem langen Überrocke des Fürsten vergebens nach Beinkleidern gesucht haben würde. Putjatin nannte besagtes Kleidungsstück die unlautere Ursache vielfacher Unlust. Es wäre ihm nicht unwahrscheinlich, sagte er, daß sowohl Römer als auch Bergschotten ihre bekannte Mannhaftigkeit nur der Sansculotterie zu danken hätten, und Rücksichten, die man sich selber schulde, seien Grund, sie abzulegen.

Auch ging Se. Durchlaucht hierin allen mit gutem Beispiel vor, indem er sich begnügte, beide Beine von oben bis unten gleich Wickelkindern mit Leinwandstreifen zu umwinden. Diese Art von Toilette, die er sich herbeiließ, eines Abends bei Schönbergs vorzuweisen, glich einem geschienten Knochenbruche und flößte uns Kindern Entsetzen ein.

Überhaupt hatte der Fürst so seine eigenen Sanitätsmaximen. Zum Beispiel genoß er niemals Brot im primären Zustande, wie es der Bäcker liefert, sondern nur geröstet, in welcher Form er es auch in fremde Häuser mit sich führte, sogar an den Hof. Er hatte nämlich ermittelt, daß im rohen Brote, wie er es nannte, wenn auch nicht chemisch nachzuweisen, doch ein verzweifelt scharfer Giftstoff stecke, welcher die Not der Skrofeln erzeuge und nur durch Rösten zu paralysieren sei. Auch hörte man ihn dartun, der offenbare Grund sehr vieler Übel sei der, daß man die Haut unausgesetzt durch Kleidung oder Betten den Einwirkungen der Luft entzöge. Nun sei es leider nicht tunlich, durchgehende nackt zu gehen wie die Kaffern, doch wolle er Herrn Schönberg hiermit allen Ernstes tägliche Luftbäder angeraten haben. Daß Se. Durchlaucht diese selbst brauchte, war sehr bekannt. In seinem Empfangszimmer hatte er sich ein Entresol oder Zwischendeck erbaut, auf welchem er, unsichtbar für die Besucher, die er im unteren Raume annahm, sich mit ihnen bestens unterhaltend, in puris naturalibus umherzuwandeln pflegte. Auf diese Weise glaubte er, die verlorene Zeit der Visiten am zweckmäßigsten auszunutzen.

Man mag aus alledem entnehmen, daß es dem Fürsten nicht an Ideen fehlte: er triefte vielmehr von Erfindung. Wenn er zur Winterszeit nach Hofe fuhr, so sah man Dampf aus seinem Wagen gehen, weil er ihn heizbar gemacht hatte. Bei schönem Sommerwetter dagegen zeigte er sich in zurückgeschlagener Kalesche – wie weiland König Richard III. zwischen den beiden Bischöfen – zwischen zwei ansehnlichen Blasbälgen, welche, durch die Bewegung der Wagenräder in Tätigkeit gesetzt, ihm Kühlung spendeten, und zwar so energisch, daß er sich genötigt sah, den Hut zu halten. Für seine zweckmäßigste Erfindung aber hielt der geistreiche Herr eine gewisse Zuckersägemaschine, welche er eines Abends im Schönbergschen Hause arbeiten ließ.

Wir Kinder wurden gerufen und staunten die neue Maschine bescheiden an. Auf dem Tische stand ein kleiner Sägebock von poliertem Buchsbaum, zusammengesetzt aus einer niedrigeren und einer höheren Gabel, auf denen der Zuckerhut waagerecht zu liegen kam, den zwei Livreebediente mittels einer gewöhnlichen Säge in zollstarke Scheiben zerteilten. Es war ihnen jedoch keineswegs gestattet, schlechtweg zu sägen, wie man Holz sägt, sondern es mußte dies in einem vorgeschriebenen Takt geschehen, den ich nicht anders zu bezeichnen wüßte als mit drei Viertelnoten und einer Viertelpause. Davon hing alles ab, sagte der Fürst. Endlich wurden die abgeteilten Scheiben nach demselben Takte mit Messer und Hammer in gleichmäßige Würfel zerschlagen.

Worin der Vorteil dieser Maschine läge? flüsterte mir August zu. Ich wußte es aber nicht."

im Kapitel Die Rückkehr des Königs:

"[..]

An diesem herzlichen Empfange beteiligte sich ein jeder nach Maßgabe seiner Begeisterung, seiner Mittel und seines Geschmackes. Einheimische und Fremde wetteiferten miteinander, dem gekränkten Könige ihre Teilnahme zu beweisen. Allen zuvor an Sinnigkeit und persönlicher Dahingabe aber tat es der obberegte Fürst Putjatin.

Der König kam von Böhmen her und hatte unweit Pirna das dem Fürsten gehörige Landgut Zschachwitz zu passieren. Hier angelangt, fand er sich durch singende Schulkinder aufgehalten, und zwar unmittelbar unter einer Ehrenpforte, in deren Wölbung eine kolossale Blumenkrone schwebte. Darin wiegte sich wie in einer Schaukel höchstselbst der alte Fürst und begrüßte den erschrockenen Monarchen von oben herab mit einer französischen Jubelrede, ihn reichlich mit Rosen bestreuend. Aus Furcht vor dem Blumenhagel soll der König gar nicht aufgeblickt und nichts erwidert haben. Erst beim Weiterfahren äußerte er gegen den neben ihm sitzenden Kavalier, der Prinz Putjatin scheine ihm etwas mentekapt zu sein."

Im Kapitel "Die Schule":

"[..] Mehr noch als unserem Kantor war es dem französischen Sprachmeister gegeben, die Bestialität der Klasse zu erwecken. Er war ein Naturalfranzose, ein kleiner, vertrockneter Mann mit pechschwarzen Haaren und limonenfarbenem Teint, welchen letzteren wir jedoch geneigt waren, nicht bloß seiner keltischen Abstammung, sondern vielmehr dem Umstande zuzuschreiben, daß Monsieur sich niemals wusch, denn wie der obberegte Fürst Putjatin in Dresden alle Misere des Lebens dem Genusse ungerösteten Brotes zuschrieb, so er dem Waschen. Er hielt dies geradezu für menschenmörderisch, und allerdings führte er an sich selber den Beweis, daß seine Unreinlichkeit ihm wenigstens nicht auf den Magen fiel, denn er hatte einen berühmten Appetit, konnte essen zur Zeit und Unzeit, soviel er wollte, und es bekam ihm alles trefflich wohl. Daß er einst in Prima vor aller Augen einen ganzen gebratenen Puter zu sich genommen habe, welchen ihm ein Schüler vom Lande zum Frühstück angeboten habe, wurde erzählt. Nach der Mahlzeit habe er seinen erbsfarbenen Überrock mit Stolz auseinandergelegt und sich, zum Zeichen, daß noch Raum vorhanden, auf den hohlen Unterleib geschlagen. [..]"